Samstag, 8. Juli 2017

Hus und Luther

„Wir sind ja alle Hussiten“ – Martin Luther und die böhmische Reformation
 
Deutschland feiert in diesem Jahr 500 Jahre Reformation. Damals hatte Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht. In Böhmen begann die Reformation jedoch mehr als einhundert Jahre früher. Jan Hus, der für seine Ideen in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde, gehörte zu den einflussreichsten Reformern. Gerade sein Erfolg ebnete Martin Luther den weiteren Weg. Inwieweit ließ sich Luther von seinem böhmischen Vorläufer inspirieren? Und was war bei ihm anders?
 
Eigentlich hatten alle Reformer in der Geschichte des Christentums ein gemeinsames Ziel: die Kirche zu ihren biblischen Wurzeln zurückzuführen und ihr Leben nach dem Vorbild von Jesus Christus zu gestalten. Einigen Reformbewegungen des Mittelalters gelang das mehr oder weniger –vor allem bei den Orden war dies der Fall. Andere aber waren den katholischen Würdenträgern zu radikal, und die Reformatoren wurden als Ketzer verfolgt. So war es sowohl bei Jan Hus als auch bei Martin Luther. Mit dem Unterschied jedoch, dass sie jeweils in zu anderen Zeiten wirkten, was auch die Ergebnisse ihrer Bemühungen beeinflusst hat.
 
Zu Zeiten von Jan Hus kämpfte die Kirche mit dem Doppelpapsttum, die Bischöfe und weltlichen Herrscher wendeten sich Mal der einen, dann wieder der anderen Seite zu. Die Moral der kirchlichen Würdenträger verfiel, und die Gläubigen wurden für alle möglichen Dienste geschröpft. Der sogenannte Ablasshandel griff weit um sich – und das in ganz Europa. Die besten Voraussetzungen für eine Reformbewegung gab es da in Prag, sagt der Jesuit und Publizist Petr Kolář:
 
„Der wichtigste Grund war, dass Prag damals Hauptstadt des Römischen Reiches Deutscher Nation war. Deswegen waren die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat hier viel angespannter als in ‚Deutschland‘. Damals gab es Deutschland im heutigen Sinne eigentlich auch noch gar nicht, sondern nur kleine territoriale Einheiten mit einem Adeligen an der Spitze. Dazu muss gesagt werden, dass sehr viele Studenten aus Prag ins Ausland gingen. Und von Studenten, die damals gerade aus England zurückkamen, nahm Hus etwas von der damaligen Stimmung auf.“
 

Prag – die unruhige Hauptstadt

 
Und die Stimmung war unruhig und deutete auf Aufbruch. Großer Beliebtheit erfreute sich auf der Insel vor allem der Theologe und Kirchenkritiker John Wyclif. Die Kirche habe nicht auf ihrem Eigentum zu sitzen, sonst habe der Staat das Recht, es ihr zu entziehen, predigte er unter anderem. Wyclif hatte in England auch politische Unterstützung. Als beispielsweise der Papst Geld für den Bau des Petersdoms in Rom forderte, lehnte der englische König dies ab.
 
Diese Gedanken brachten schließlich die Studenten in die Hauptstadt Böhmens. Jan Hus, Magister an der Prager Universität, fand schnell Gefallen an Wyclifs Ideen. Er verbreitete sie nicht nur an seinem Lehrstuhl, sondern auch von der Kanzel in der Bethlehemskapelle in der Prager Altstadt, in der sich seine Zuhörer regelmäßig versammelten. 1393 stellte der Prager Erzbischof dem späteren Reformator Hus diese Kapelle sogar zur Verfügung. Die Situation wurde jedoch prekär, nachdem der Prediger die Unterstützung durch König Wenzel IV. verloren hatte. Das geschah Anfang des 15. Jahrhundert, erläutert Pieter Morée, Dozent an der Prager Karlsuniversität.
 
„Das war aber auch die Zeit, in der verschiedene Gruppen deutschsprachiger Akademiker an der Universität arbeiteten. Sie machten teilweise in der Reformbewegung mit und waren manchmal sogar radikaler als Hus. Erwähnen ließen sich Nikolaus von Dresden oder die Gruppe der Schwarzen Rose. Es gab natürlich ebenso deutschsprachige Gegner von Jan Hus, was mit den politischen Umständen und der unklaren Lage innerhalb der Kirche zusammenhing. Einige davon waren später als Gegner von Hus in Konstanz aktiv. Darunter waren ebenso tschechische Kollegen des Kirchenreformers. Wir können also nicht sagen, dass da Tschechen den Deutschen gegenüberstanden."
 
Der römische Papst belegt Jan Hus 1412 mit dem Kirchenbann und verbietet ihm zu predigen. Die Schriften von John Wyclif werden auf Befehl des Papstes in Prag öffentlich verbrannt, was einen Aufstand entfacht. Damit die Lage nicht weiter eskaliert, verlässt Hus die böhmische Hauptstadt und zieht mit einer Gruppe Anhängern durchs Land. Als drei Jahre später das Konzil in Konstanz beginnt, begibt er sich freiwillig dorthin, um seine Lehre vor den Kirchenvätern zu verteidigen. „Nur Gott und sein Wort dürfen mein Richter sein“, so glaubte er. Beim Konzil wird er aber als Ketzer verurteilt und am 6. Juli 1415 verbrannt.
 
Die kirchlichen Würdenträger irrten sich aber, als sie glaubten, die Lage in Böhmen dadurch beruhigen zu können. Petr Kolář:
 
„In Böhmen war die Situation inzwischen katastrophal geworden. Zunächst verfassten die Adeligen nach der Hinrichtung von Hus ein Traktat und protestierten. Das war der Auftakt zu sehr vielen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Befürwortern und Gegnern von Jan Hus. Die Hussiten betrachteten sich selbst als die einzigen wahren Katholiken. Es kam zu gewaltsamen Kriegen, in denen sie zunächst einmal siegreich waren. Kreuzzüge wurden nach Böhmen geschickt und allesamt geschlagen. Die Hussiten verrohten aber durch die Grausamkeiten der Zeit. Dadurch verlor das Hussitentum dann langsam auch die Unterstützung des Volkes und der Adeligen in Böhmen.“
 
Insgesamt vier Kreuzzüge werden aus Rom gegen die hussitischen Rebellen geschickt. Die katholische Propaganda verbreitet ein sehr negatives Bild von Böhmen. Seit dem Konzil in Konstanz gilt es als ein barbarisches Land, das eine Gefahr für die seine Umgebung darstellt und das man am besten meiden sollte. Tatsächlich plündern die Hussiten viele Städte und gehen weit über die Grenzen Böhmens hinaus auf ihre Raubzüge.
 
Auch auf Martin Luther hat dieses Bild einen starken Einfluss. Er kennt den „Fall Hus“ seit seiner Studienzeit, er liest sogar die Protokolle des Konstanzer Konzils. In seinen ersten Schriften beschreibt er Hus als einen falschen Reformer. Erst später ändert er seine Ansicht, betont Pieter Morée.
 
„Luther war ja Augustiner und wohnte längere Zeit in Erfurt, wo Johannes Zachariä begraben wurde. Dieser war einer der Gegner von Jan Hus beim Konzil in Konstanz gewesen. Aber schon in den 95 Thesen von 1517 sieht man, dass Luther davon überzeugt ist, Hus sei zwar Ketzer gewesen – aber dass man mit Ketzern reden sollte, anstatt sie umzubringen. Das war der erste Schritt. Dann kam 1519 eine große Konfrontation mit Johannes Eck, einem der größten Theologen und Intellektuellen seiner Zeit. Er kam aus Ingolstadt in Bayern und sah sich als eine wichtige Person, um Luther zu korrigieren. Es fand also eine Debatte in Leipzig statt, in der Eck gesagt haben soll, Luther sei eigentlich ein neuer Hus. Das Witzige ist, dass diese Debatte am 5. Juli 1519 stattfand, am Vorabend des Jahrestags der Verbrennung von Hus. Luther nahm diesen Vorwurf auf und sagte, eigentlich habe Eck Recht. Gerade im Fall Hus könne man sehen, dass sich die Kirche geirrt habe. Hus sei ein guter Mensch gewesen.“
 
Luther – der neue Hus?
 
Diese Debatte bewegt Luther laut den Historikern dazu, das wichtigste Werk von Jan Hus mit dem Titel „De Ecclesia“ (Über die Kirche) zu lesen. Praktisch in allen Punkten soll er einverstanden gewesen sein: bei der Rolle der Priester und des Papstes, beim Verlauf der Heiligen Messe oder auch bei der Lehre über die Sakramente. Danach schreibt Luther einen Brief an einen seiner Freunde, in dem der bekannte Satz steht: „Ohne es zu wissen, sind wir alle Hussiten.“ Der böhmische Reformer ist für Luther nun der Heilige, den die Kirche verbrennen ließ.
 
Doch Luther hatte im Unterschied zu Hus Glück: Er genoss die Gunst seiner Herren. Nachdem ihn der Papst zum Ketzer erklärte, ließ ihn der sächsische Kurfürst Friedrich III. auf die Wartburg entführen, was ihm höchstwahrscheinlich das Leben rettete. Und obwohl Luthers Ideen auch im deutschsprachigen Raum nicht eindeutig angenommen wurden, kam es nicht zu solch grausamen Konflikten wie in Böhmen. Ist das aber der Grund, warum heute Jan Hus im europäischen Kontext wie eine „graue Maus“ wirkt, wie 2015 die Zeitung „Die Welt“ schrieb? Der gebürtige Niederländer Pieter Morée meint, dass dies mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu tun hat.
 
„Die Nationalbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts brauchten ja Helden. Was ist aber ein Held für die Nation? Das ist jemand, der sich irgendwie opfert und etwas für die Identität und für das Dasein des Volkes gemacht hat. Bei Luther war klar, er hat die Bibel übersetzt – das heißt, er hat dem Volk die Sprache und deshalb die Identität gegeben. Luther wurde also zum Helden der deutschen Nation. Auf der tschechischen Seite lief das ähnlich: Hus wurde zum Helden, weil er sich nicht für die Sache Gottes opferte, sondern für die Nation. Er hat der Nation ihr erstes Gesicht gegeben. In dieser Auseinandersetzung entsteht das Bedürfnis zu definieren, wer zuerst gekommen ist und wer von wem abhängig war.“
 
Bis zum 19. Jahrhundert verstand sich die europäische Reformation als ein gemeinsames Werk zahlreicher Persönlichkeiten aus verschiedenen Zeiten. Es gibt auch Gemälde, auf denen alle Reformer gemeinsam an einem Tisch sitzen. Heutzutage kehren die Kirchen wieder zu dieser Interpretation zurück. Denn wie der alte Spruch sagt: Die Kirche muss immer wieder reformiert werden.
 
 

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