Sonntag, 24. Januar 2016

Die Wahl zum neuen niederösterreichischen Superintendenten

Superintendentenwahl wird wiederholt

Die Nachfolge des verstorbenen Superintendenten der Evangelischen Kirche in Niederösterreich, Paul Weiland, ist am Samstag offen geblieben. Bei der Superintendentenwahl fiel keine Entscheidung. Die Wahl muss wiederholt werden.
Im fünften und letzten Wahlgang zwischen den beiden Kandidaten, dem Kärntner Pfarrer Martin Müller und der Rektorin des Diakoniewerks in Gallneukirchen, Pfarrerin Christa Schrauf, fiel keine Entscheidung. Die Nachfolge des verstorbenen Superintendenten der Evangelischen Kirche, Paul Weiland, blieb damit weiterhin offen.

Pfarrgemeinden müssen neue Kandidaten nominieren

Bei der Wahl in St. Pölten erhielten die beiden Kandidaten im fünften und letzten Wahlgang jeweils 35 Stimmen von den Delegierten aus allen evangelischen Pfarrgemeinden Niederösterreichs. Laut Wahlordnung zur Superintendentenwahl ist die Wahl neu durchzuführen, wenn bei zwei Kandidaten keiner der beiden in fünf Wahlgängen eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht.
Nun werden die Pfarrgemeinden erneut Kandidatinnen und Kandidaten nominieren, teilte der Evangelischer Pressedienst für Österreich am Samstagabend mit. Die Evangelische Kirche in Niederösterreich umfasst 28 Gemeinden und knapp 40.000 Mitglieder.

Montag, 18. Januar 2016

Protestantische Politiker der Geschichte

Joachim Gauck (* 24. Januar 1940 in Rostock) ist der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor war er als evangelisch-lutherischer Pastor und Kirchenfunktionär, Volkskammerabgeordneter für Bündnis 90, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen sowie als Publizist tätig. Am 18. März 2012 wählte ihn die Bundesversammlung mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten; am 23. März wurde er vereidigt. Gauck gehört keiner Partei an.
In der DDR leitete Gauck die Vorbereitung und Durchführung der beiden evangelischen Kirchentage 1983 und 1988 in Rostock. Während der friedlichen Revolution in der DDR wurde Gauck ein führendes Mitglied des Neuen Forums in Rostock. Am 18. März 1990 wurde er in die Volkskammer der DDR und von dieser am 21. Juni 1990 zum Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS gewählt.
Gauck stand vom 3. Oktober 1990 bis Oktober 2000 als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) an der Spitze der oft nach ihm benannten „Gauck-Behörde“, die die schriftliche Hinterlassenschaft des MfS verwaltet und zugänglich macht. Nachdem ihn Marianne Birthler abgelöst hatte, engagierte sich Gauck gesellschaftspolitisch mit Vorträgen und Medienaktivitäten, so etwa von 2003 bis 2012 als Vorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Er ist einer der Initiatoren der Prager Erklärung und der Erklärung über die Verbrechen des Kommunismus. Gauck wurde mehrfach für Verdienste und Publikationen geehrt und ausgezeichnet.
Gauck wurde 1940 in Rostock geboren. Seine ersten fünf Lebensjahre verbrachte er meist an der Ostsee in Wustrow auf dem Fischland – zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern im Haus seiner Großmutter väterlicherseits. Sein Vater Wilhelm Joachim Gauck, der in Dresden geboren wurde, war Kapitän der Handelsmarine und Oberleutnant zur See der Reserve, die Mutter Olga, geb. Warremann, gelernte Bürofachfrau. Sie arbeitete als Bürovorsteherin in einem Anwaltsbüro. Die Eltern hatten 1938 geheiratet. Gaucks Vater absolvierte 1940 sein Kapitänsexamen mit Auszeichnung. Er war im Zweiten Weltkrieg u. a. für das Aufspüren von Minen zuständig und verbrachte die Kriegszeit überwiegend in Kasernen z. B. in Stralsund. Ein halbes Jahr lebte die Familie gemeinsam mit dem Vater in Gdynia (deutsch Gdingen bzw. damals „Gotenhafen“), wo dieser stationiert war. Bei Kriegsende unterrichtete er an der Marinekriegsschule in Flensburg-Mürwik den Offiziernachwuchs in Navigation und Gesetzeskunde. Die Eltern waren NSDAP-Mitglieder, die Mutter ab 1932, der Vater ab 1934. Sie hatten drei weitere Kinder: Marianne, Sabine und Eckart († 23. August 2013).
Vom Bombenkrieg war der bei Kriegsende fünfjährige Gauck in Wustrow kaum betroffen. Nachdem Mecklenburg zur sowjetischen Besatzungszone gehörte, wurde das unmittelbar an der Ostsee gelegene Haus von Gaucks Großmutter aber von der Roten Armee zu militärischen Zwecken requiriert und musste später zu einem sehr niedrigen Mietzins an einen Großbetrieb verpachtet werden, der dort urlaubende Mitarbeiter unterbrachte.
Ende 1945 zog die Mutter mit ihren damals noch drei Kindern zu den eigenen Eltern nach Rostock.
Ab 1946 besuchte Gauck in Rostock eine Grundschule, dann die Oberschule bis zum Abitur 1958.
Der Vater kehrte im Sommer 1946 kurz vor Gaucks Einschulung aus britischer Kriegsgefangenschaft zurück und arbeitete dann als Arbeitsschutzinspektor für Schifffahrt auf der Rostocker Neptun-Werft. Bei einem Verwandtenbesuch in Wustrow wurde er am 27. Juni 1951 von zwei Männern aufgesucht und unter dem Vorwand, es habe auf der Werft einen schweren Unfall gegeben, bei dem er helfen müsse, mit einem Auto abgeholt. Für die nächsten Jahre war er für die Familie spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen bei der Volkspolizei, der Kriminalpolizei und der Staatssicherheit blieben ergebnislos. Eingaben an staatliche Stellen und Gesuche an Wilhelm Pieck seien erfolglos geblieben.
Erst in der beginnenden Tauwetter-Periode nach Stalins Tod erfuhr die Familie im September 1953, dass der Vater sich in einem sibirischen Arbeitslager befand. Es war möglich, Briefkontakt mit ihm aufzunehmen.
Gauck und seine beiden Geschwister seien zur totalen Ablehnung des politischen Systems der DDR erzogen worden, dem das Verschwinden des Vaters angelastet wurde:
„Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen. Intuitiv wehrte ich das Werben des Regimes für die Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele ab, denn über uns hatte es Leid und Unrecht gebracht.“
Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 beschrieb Gauck in seinen autobiographischen Aufzeichnungen als „elektrisierendes Erlebnis“. Auch auf der nahen Neptun-Werft streikten 5000 Arbeiter und forderten den Rücktritt der Regierung. Trotz der Niederschlagung des Aufstands erinnerte sich Gauck an eine vorübergehende Lockerung des streng „klassenkämpferischen“ Kurses im Schulalltag.
Der Vater kam im Oktober 1955 (nach über vier Jahren Arbeitslager) extrem geschwächt aus dem Gulag zurück. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er wieder als Lotse arbeiten konnte. Ihn hatte nach seinem Verschwinden ein geheim tagendes sowjetisches Militärtribunal in Schwerin zu zweimal 25 Jahre Freiheitsentzug verurteilt: „Die ersten 25 Jahre wegen Spionage für einen Brief, den er von Fritz Löbau erhalten hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten auf der Rosslauer Werft, mit dem er 1947 Schnellboote für die Sowjets erprobt hatte. Löbau hatte sich in den Westen abgesetzt und meinen Vater zu einem Besuch nach West-Berlin eingeladen, fünfzig Mark Reisegeld lagen dem Brief bei. Obwohl mein Vater nicht reagiert hatte, wurde ihm die Einladung beziehungsweise diese Bekanntschaft zum Verhängnis; Löbau soll mit dem französischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben.“ Als Beweisstück für die Verurteilung zu weiteren 25 Jahren wegen „antisowjetischer Hetze“ soll eine bei Gaucks Vater gefundene nautische Fachzeitschrift westlicher Herkunft gedient haben, die aber ganz legal mit der Post bezogen worden war. Der Vater war in ein sibirisches Arbeitslager gekommen. Bereits nach einem Jahr habe er als „invalidisiert“ eingestuft werden müssen und musste nur noch relativ leichte Arbeiten verrichten.
Die Rückkehr des Vaters war eine Folge der Moskauer Verhandlungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer; sie änderte nichts an der ablehnenden Haltung der ganzen Familie gegenüber der SED-Regierung. Gauck resümierte später, er sei „mit einem gut begründeten Antikommunismus aufgewachsen“.
Die bis zur Errichtung der Berliner Mauer vorhandene Reisefreiheit benutzte Gauck zu Reisen in den „Westen“, sah als Fünfzehnjähriger Paris, war auf Fahrradtour in Schleswig-Holstein unterwegs und besuchte häufig West-Berlin. Nach eigenen Angaben habe er jedoch nicht ernsthaft an ein „Rübermachen“ gedacht.
„Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine Geliebte.“
Ein Jahr nach dem Abitur heirateten Joachim Gauck und seine Schulfreundin Gerhild „Hansi“ Radtke. Die kirchliche Trauung vollzog 1959 sein Onkel, der Güstrower Domprediger Gerhard Schmitt. Gaucks Berufschancen waren in der DDR beschränkt. Sein Wunschberuf Journalist schied unter DDR-Bedingungen für ihn von vornherein aus. Gauck entschied sich, von seinem Onkel bestärkt, gegen eine Lehre und für ein Theologiestudium, das er von 1958 bis 1965 in Rostock absolvierte. Dabei ging es ihm nach eigenem Bekunden anfänglich nicht um die Qualifizierung für eine Pfarrstelle, sondern vornehmlich um philosophischen Erkenntniszuwachs und Argumente gegen den obrigkeitlich verordneten Marxismus-Leninismus. Dafür boten die theologischen Fakultäten in der DDR einen Freiraum.
„Mein Weg zur Theologie war in der DDR nicht ungewöhnlich. Vor und nach mir haben sich viele aus ähnlichen Motiven für diesen Beruf entschieden – was das starke Engagement vieler Pastoren beim politischen Aufbau 1989 erklärt. […] Anders als die elterliche oder die staatliche Autorität bot der Glaube die Möglichkeit, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die von niemandem befohlen und von niemandem genommen werden konnte. Er vermittelte eine geheimnisvolle Kraft, die uns befähigte, den Minderheitenstatus durchzuhalten, mutig zu bleiben, wo andere sich schon angepasst hatten, und Anständigkeit, Treue und Glauben für wichtiger zu halten als Wohlstand, Karriere oder öffentlichen Erfolg.“
Nachdem die DDR im Jahr 1962 die Wehrpflicht eingeführt hatte, entging Gauck, dessen Jahrgang ohnehin überwiegend nicht eingezogen wurde, als immatrikulierter Student der Einberufung. Nach seiner Heirat und den Geburten seiner Söhne 1960 und 1962, aber auch aufgrund von Schwierigkeiten im Studium, geriet er in eine Orientierungskrise. Eine Studienverlängerung wurde ihm 1964 erst nach nervenärztlicher Begutachtung bewilligt. Auch nach Abschluss des Studiums hatte sich Gauck noch nicht für den Pfarrberuf entschieden. Erst während seines Vikariats in Laage stellte sich bei Gauck nach eigenen Angaben im Kontakt mit den Gemeindemitgliedern das Zutrauen ein, dem Pastorenamt als Person und im Glauben gewachsen zu sein.
„In der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern aber habe ich die Angst verloren, vom Zweifel verschlungen zu werden. Ich konnte geistlich wachsen und selbst etwas ausstrahlen. Ich lernte, dass Glaube eigentlich ein Dennoch-Glaube ist, ein Glaube auch gegen den Augenschein; und dass es erlaubt ist, mit dem Zweifel in den Kreis der Glaubenden einzutreten, auch mit dem Zweifel zu leben und zu predigen. Ohne diese Erfahrung hätte ich das Leben als Pastor wohl nicht ausgehalten, denn oft gelangte ich an die Grenzen meiner theologischen Möglichkeiten.“
Nach seiner Ordination arbeitete er ab 1967 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs als Pastor im ländlichen und vergleichsweise religiös geprägten Lüssow und ab 1971 in Rostock-Evershagen, wo Gauck nach eigenen Angaben erfolgreich in der Missionsarbeit und als Kreis- und Stadtjugendpfarrer tätig war.
Seit 1974 beobachteten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Aktivitäten Gaucks. Demnach hatte er einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) gegenüber zum Beispiel im Mai 1974 die Regierung der DDR als „Clique“ bezeichnet, „die gemeinsam mit dem MfS und der NVA das Volk unterjocht“. Über einen Friedensgottesdienst 1982 heißt es: „G. zog in seiner Predigt zum Thema Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Frieden Vergleiche zum Faschismus in Deutschland und unserer sozialistischen Entwicklung in der DDR.“ Die Stasi-Offiziere empfahlen die „Einleitung von gezielten Zersetzungsmaßnahmen“. Über die tatsächliche Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Gauck ist nichts bekannt. Zu dem guten Dutzend fundamentaloppositioneller Gruppen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre in Mecklenburg und Vorpommern zusammenfanden, hatte er keinen Kontakt.
Zwischen 1982 und 1990 war Gauck Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. Der Kirchentag 1988 (Motto: „Brücken bauen“) stand bereits unter dem Eindruck der Reformen des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow. Man wollte nach Gaucks Angaben die SED mit der Forderung zu einem Dialog ohne Beschränkung zwingen, die Parteispitze sollte sich zu den in Kirchenkreisen intensiv diskutierten Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsthemen äußern. Ein Höhepunkt auf diesem Kirchentag war nach hürdenreicher Einladung eine Ansprache des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt von der Kanzel der Rostocker Marienkirche.
Stasi-Hauptmann Terpe suchte nach dem Kirchentag Gauck zu einem längeren Gespräch auf, worüber der sich angeblich „angenehm überrascht“ zeigte. Terpe notierte anschließend, dieses Gespräch werde Gauck dazu veranlassen, „seine Haltung zum MfS zu überdenken“, konstatierte aber auch, dass Gauck „zu einem ständigen regelmäßigen Kontakt nicht bereit ist, da es seiner Grundauffassung widerspreche und es zu viele Dinge gibt, die zwischen uns stehen“. Im November 1988 beschloss die Stasi die Einstellung des gegen Gauck gerichteten Operativen Vorgangs Larve: „Im Rahmen der Vorgangsbearbeitung wurde ein maßgeblicher Beitrag zur Disziplinierung von Larve erreicht. Aufgrund des Bearbeitungsstandes kann eingeschätzt werden, dass von ihm derzeit keine Aktivitäten ausgehen werden, die eine weitere Bearbeitung im OV erforderlich machen.“
Gaucks eigene Aussagen zu seinem damaligen Verhältnis zu den staatlichen Organen der DDR und speziell zum MfS wurden im Jahr 2000 von Peter-Michael Diestel, dem letzten DDR-Innenminister im Kabinett de Maizière, in Frage gestellt. Diestel brachte in die Debatte eidesstattliche Erklärungen ehemaliger MfS- und SED-Funktionäre ein, wonach Gauck ein Begünstigter des DDR-Regimes gewesen sei. In der Folge kam es zu juristischen Auseinandersetzungen; diese wurden mit einer gütlichen Einigung vor dem Oberlandesgericht Rostock beendet. Nach dem Wortlaut des Urteils war allerdings juristisch gesehen Diestel der Gewinner. Über Gauck darf rechtskräftig behauptet werden, er sei "Begünstigter der Stasi" entsprechend der Verhandlung vom 22. September 2000 vor dem Landgericht Rostock (AZ 3 O 245/00). Vgl. "Der Verfügungskläger (Gauck) hat gegen den Verfügungsbeklagten (Diestel) auch keinen Anspruch auf Unterlassung der Äußerung, er sei 'Begünstigter' i.S.d. Stasi-Unterlagengesetzes."
Dagegen bestritt der DDR-Bürgerrechtler und der Freitag-Mitherausgeber Wolfgang Ullmann (1929–2004) jegliche Form der Zusammenarbeit Gaucks mit der Stasi; er schrieb: „Gauck hat sich an die in der Landeskirche Mecklenburg geltende Regelung gehalten, Gespräche mit dem MfS der Kirchenleitung mitzuteilen und damit jede Konspiration zu unterbinden. Wenn Diestel das bestreiten will, trägt er dafür die Beweislast, nicht etwa Gauck.“ Auch die Bestimmungen des Stasiunterlagengesetzes über Begünstigte des MfS träfen auf Gauck nicht zu.
Laut Akten des Staatssicherheitsdienstes soll Gauck gesagt haben, dass er für Rostock keinen oppositionellen „Kirchentag von unten“ wolle, wie er 1987 von ca. 600 Teilnehmern am Rande des offiziellen Kirchentages der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg veranstaltet wurde: „Der gesamte Kirchentag ist ein Kirchentag von unten, aber Missbrauchshandlungen läßt er nicht zu … Rostock ist nicht Berlin – Gäste haben sich zu fügen und einzuordnen.“ Der teilnehmende oppositionelle Theologe Heiko Lietz sagte, er sei während des Kirchentages in seinen Entfaltungsmöglichkeiten „massiv eingeschränkt“ worden. Laut einem Zwischenbericht des MfS vom 26. August 1987 sei Gauck „an keinen Themen interessiert […], die sich offen gegen die staatlichen Verhältnisse in der DDR richten. Aus diesem Grund hat er den Lietz, Heiko … anfangs nicht mit in den Vorbereitungskurs für den Kirchentag 1988 einbezogen. Erst auf Drängen von Lietz wurde dieser nachträglich in eine Themengruppe integriert und als Themenleiter eingesetzt.“ Lietz erklärte, er sei als Vorsitzender der landeskirchlichen Arbeitsgruppe für konziliare Prozesse nicht in den Vorbereitungskurs eingeladen und wenige Tage vor Kirchentagsbeginn als Vorsitzender abberufen worden.[
Als der Bürgerprotest gegen die DDR-Obrigkeit in der zweiten Oktoberhälfte 1989 auch im Norden des Landes zur Massenbewegung wurde, hielt Gauck am 19. Oktober in Rostock eine Predigt zum Propheten Amos, in der er „tötende Selbstgerechtigkeit“ der „rettenden Gerechtigkeit“ gegenüberstellte. Im Ergebnis plädierte er auch für ein Bleiben in der DDR: „Die, die uns verlassen, hoffen nicht mehr.“ Gauck sah in der Revolution von 1989 ein ihn prägendes Erlebnis und bezeichnete die Losung „Wir sind das Volk!“ als Übersetzung der in der Französischen Revolution angelegten Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in den Protest gegen das SED-Regime. Die Parole habe Bürgersinn geweckt. Sie habe bewusst gemacht, dass Menschen nicht die Verfügungsmasse einer scheinbar ewig sicheren Macht seien, „sondern dass wir es sind, die das Sagen haben“. Man habe sich gefragt: „Bin ich das? Sind wir das? Sind wir tatsächlich so mutig, wir landläufigen Feiglinge?“
Der DDR-Oppositionelle Hans-Jochen Tschiche kritisierte die Betitelung als „Bürgerrechtler“ in den Medien und sagte in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung, dass Gauck nicht zu den Gründervätern gehöre und in der Opposition nicht aufgefallen sei: „Er sprang erst später auf den fahrenden Zug auf. Wenn ich heute die veröffentlichte Meinung wahrnehme, wird er immer als Lokomotivführer der Oppositionsbewegung beschrieben. Heiko Lietz, ebenso Mitbegründer des Neuen Forums, sagte, er sei zur Kunstfigur aufgebaut worden, wofür man ihn nicht verantwortlich machen könne. Gauck „lehnte diesen Staat ab. Er war verlässlich“, aber als sich landesweit die Opposition vernetzte, illegal, mit Risiken, da sei Gauck nie dabei gewesen. Er führte weiter aus: „Er war in der Friedensbewegung nicht verwurzelt, es war wohl nicht sein Thema.“ Auch sei Gauck nicht unter den Aktivisten, die das Neue Forum gründeten, vorne dabei gewesen. Er sei dort spät aufgetaucht und habe sich nach Berlin wählen lassen, „als der Zug schon längst abgefahren und das Tor weit auf war“. Die ehemalige Dissidentin Vera Lengsfeld erwiderte dagegen, dass auf alle, die im Herbst 1989 Widerstand gegen das SED-Regime leisteten, der Begriff „Bürgerrechtler“ angewandt worden sei, und widersprach insbesondere Tschiche deutlich. Insofern trage „Gauck ihn mit Recht“. Die Times beschrieb ihn als ehemaligen Dissidenten: „a former east German dissident priest, regarded by many as a moral authority.“
Gauck trat bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 im Bezirk Rostock für die Listenverbindung Bündnis 90 an, zu der das Neue Forum (NF) gehörte, und wurde knapp gewählt. Als Abgeordneter beschäftigte er sich vorrangig mit der Rolle der Stasi in der DDR. Innerhalb des NF setzte sich der seit Oktober 1989 vom täglichen Kirchendienst freigestellte Gauck für eine staatliche Einheit Deutschlands ein. Am 31. Mai 1990 begründete Gauck in der Volkskammer den Antrag „zur Einsetzung des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS“. Vertreter der Bürgerkomitees wurden mit beratender Stimme in die Ausschussarbeit einbezogen. In der konstituierenden Sitzung des Sonderausschusses wurde Gauck am 21. Juni 1990 zum Vorsitzenden gewählt.
Eines der zentralen Probleme in der Zuständigkeit des Ausschusses war nach Gaucks Darstellung die personelle Zusammensetzung des seit Februar 1990 bestehenden staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS. Er habe sich bemüht, ehemaligen MfS-Angehörigen als Kennern der Materie vertrauenswürdige Vertreter aus den Bürgerkomitees an die Seite zu stellenund sich gegen westdeutsche Forderungen nach Überführung des Stasi-Aktenmaterials ins Koblenzer Bundesarchiv gestellt, auch die erwogene Vernichtung dieser Unterlagen unterband er. Gauck sah die Akten als wichtiges Gut für die künftige Gestaltung der Demokratie wie auch als unverzichtbare Grundlage für den Rechtsanspruch der geschädigten Bürger auf Rehabilitation und die Nachweismöglichkeit von erlittenem Unrecht. Er wurde so zu einem der Initiatoren des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit, das am 24. August 1990 von der Volkskammer beschlossen wurde.
Am 28. September wurde Gauck in der letzten Arbeitssitzung der Volkskammer zum Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR gewählt und am 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes in dieser Funktion bestätigt.
Sein Mandat als einer der 144 Abgeordneten, die die Volkskammer gemäß Art. 42 des Einigungsvertrages zur Entsendung in den 11. Deutschen Bundestag gewählt hatte, legte Gauck daraufhin am 4. Oktober 1990 nieder. Aus dem Dienst als Pastor in der mecklenburgischen Landeskirche wurde er im November 1990 auf seinen eigenen Antrag hin entlassen. Als Sonderbeauftragter residierte Gauck zunächst mit nur drei Mitarbeitern im frei gewordenen Komplex des SED-Zentralkomitees in der Behrenstraße, bevor die Behörde in einen vor 1989 vom Innenministerium der DDR genutzten Gebäudekomplex in der Glinkastraße umzog.
Bei der Übernahme der Stasi-Angestellten, auf die sich bereits das staatliche Auflösungskomitee gestützt hatte, verfolgte man laut Gauck einen pragmatischen Kurs: „Auf einige konnte man aufgrund ihrer Spezialkenntnisse nicht verzichten, andere hatten sich in der Übergangszeit nicht arrogant und gehässig, sondern kooperativ und freundlich gegen die Bürgerrechtler verhalten. Ich bat also meine Vertrauenspersonen in Berlin und in den Bezirken, mir die Namen derjenigen zu nennen, die für eine Übernahme in Frage kämen, und zwar Archivfachleute und Techniker. Diese Bitte sollte später wiederholt Gegenstand heftiger Polemiken werden.“
Seine Hauptzuständigkeit sah Gauck als Nicht-Jurist in einer politischen Richtlinienkompetenz, nicht aber im konkreten Behördenaufbau. Zu seinem Stellvertreter machte Gauck den vormaligen Referatsleiter beim bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und späteren Verfassungsschutz- und BND-Präsidenten Hansjörg Geiger. Anfang 1991 begann die ausländische Presse, Gauck wahrzunehmen. Die New York Times widmete ihm am 20. Januar einen ersten Artikel:
„Herr Gauck ist der offizielle Wächter über Millionen von Akten, die über die letzten vierzig Jahre von Agenten der inzwischen aufgelösten Ostdeutschen Geheimpolizei, der Stasi, gesammelt worden waren. Sein ruhiges Beharren, dass die Deutschen sich der Wahrheit über die Stasi stellen müssen, machte ihn für manche zum Helden, speziell für die Opfer der kommunistischen Führer, die Ostdeutschland bis zum letzten Jahr regierten. Andere jedoch, darunter auch einige prominente Politiker in Bonn, wünschen ihm nichts Gutes.“
New York Times: „Germany’s New Custodian of Stasi Secrets Insists on Justice“ von Stephen Kinzer, 20. Januar 1991. Übersetzt aus dem Englischen.
Mit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes am 2. Januar 1992 wechselte die Bezeichnung dieses Amtes noch einmal: Gauck war jetzt Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Am gleichen Tag wurde interessierten Betroffenen auf Antrag erstmals Akteneinsicht durch die Gauck-Behörde gewährt. In den ersten hundert Tagen wurden nach seinen Angaben 420.000 Anträge auf private Akteneinsicht und 130.000 Anträge auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst gestellt.
In seiner Amtszeit kam es zu einem Rechtsstreit zwischen der von Gauck geführten Behörde und dem Ministerpräsidenten von Brandenburg, Manfred Stolpe. Das Verwaltungsgericht Berlin entschied am 3. Juni 1993, dass Gauck nicht länger behaupten darf, Stolpe sei ein wichtiger inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen. Die Forderung Stolpes, Gauck alle bisher wertenden Äußerungen zu verbieten, lehnte das Gericht ab.
Erfolglos wandte sich Gauck dagegen, die am 31. Dezember 1997 auslaufende Verjährungsfrist für mittelschwere Straftaten aus DDR-Zeiten zu verlängern. Die bisherige Verlängerung hatte aus seiner Sicht keinen hinreichenden Erfolg gehabt. Ein Jahr später sprach er sich aber auch dagegen aus, die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu beenden, da noch immer eine große Zahl von Anträgen auf Akteneinsicht in seiner Behörde unbearbeitet geblieben waren.
Gaucks erste Amtszeit dauerte bis 1995. Am 21. September wurde er vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit für weitere fünf Jahre als Bundesbeauftragter bestätigt. Da für diese Funktion per Gesetz nur zwei Amtszeiten vorgesehen sind, räumte Gauck seinen Platz als Behördenchef am 10. Oktober 2000 für seine Nachfolgerin Marianne Birthler. Die Kurzform „Gauck-Behörde“, hernach auch „Birthler-Behörde“, bürgerte sich aufgrund des sperrigen offiziellen Titels ein.
Kritisiert wurde Gauck für die Beschäftigung von Stasi-Mitarbeitern in seiner Behörde. Damit setzt sich ein vertrauliches „Gutachten über die Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger bei der BStU“ auseinander, das von Hans H. Klein und Klaus Schroeder 2007 im Auftrag des Kulturstaatsministers Bernd Neumann erstellt und durch WikiLeaks publiziert wurde. Für 1991 rechneten sie mit mindestens 79 ehemaligen Stasimitarbeitern, darunter fünf ehemaligen sogenannten Inoffiziellen Mitarbeitern: „Nahezu alle ehemaligen MfS-Bediensteten hatten in den ersten Jahren des Aufbaus der Behörde die Möglichkeit des Missbrauchs. Sie konnten Akten vernichten, verstellen oder herausschmuggeln, denn sie hatten als Wachschützer, als Archivare, als Magazinmitarbeiter oder als Rechercheure zum Teil ungehinderten und unbeaufsichtigten Zugang zu erschlossenem, aber auch zu unerschlossenem Material.“ Aussagen Gaucks und des damaligen Direktors Busse gegenüber der Bundesregierung, „beim Bundesbeauftragten wurden am 1. Januar 1997 noch 15 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS als Angestellte bzw. als Arbeiter beschäftigt“, wiesen die Gutachter Klein und Schroeder als „falsch“ zurück, da zu dieser Zeit mindestens 46 solche Personen beschäftigt gewesen seien, darunter ehemalige Wach- und Personenschützer des MfS, drei frühere Mitglieder des MfS-Wachregiments sowie weitere 16 ehemalige Hauptamtliche, die unerwähnt blieben. Die Behördenleitung wies den Vorwurf mit Blick auf die damalige Praxis anderer Behörden zurück. Roland Jahn, der zweite Nachfolger Gaucks als Behördenchef, betrieb die Trennung von solchen Mitarbeitern und nannte die Beschäftigung ehemaliger Stasi-Angehöriger einen „Schlag ins Gesicht der Opfer“.

Im Wintersemester 1999/2000 gab Gauck im Rahmen einer Gastprofessur Vorlesungen zum Thema „1989 – Vom Untertan zum Bürger“ an der Medizinischen Universität zu Lübeck.







Protestantische Politiker der Geschichte

István (Stephan) Tisza Graf von Borosjenő und Szeged [ˈiʃtvaːn ˈtisɒ], ungarisch Szegedi és borosjenői gróf Tisza István (* 22. April 1861 in Budapest; † 31. Oktober 1918 ebenda), war als Ministerpräsident Ungarns 1903 bis 1905 und 1913 bis 1917 ein führender Politiker Österreich-Ungarns und spielte eine wichtige Rolle in der Julikrise, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte.  Tisza war Calvinist, seine Familie stammte aus dem niederen Adel Siebenbürgens. Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts herrschten in Ungarn die Liberalen (bzw. das linke Zentrum). Istváns Vater Kálmán Tisza formierte daraus 1875 eine neue Liberale Partei, wurde im gleichen Jahr ungarischer Ministerpräsident und blieb dies bis 1890. István „erbte“ von ihm praktisch die Partei. Sie vertrat eine an den Interessen der oberen magyarischen Gesellschaftsschichten orientierte Politik und war weder an Demokratisierung noch an Gleichberechtigung der anderen Nationalitäten in den Ländern der ungarischen Krone interessiert, obwohl diese etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachten.
Als Abgeordneter zum ungarischen Reichstag und liberaler Parteiführer wirkte Tisza 1902/1903 am Entwurf des „Neunerprogramms“ mit, in dem gefordert wurde, die Macht des Königs an den Reichstag zu binden. Die Frage der ungarischen Dienst- und Kommandosprache in der k.u.k. Armee wurde zwar erwähnt, aber im Forderungskatalog vorerst ausgeklammert. Ansonsten ließ das Programm nach Meinung des christlichsozialen Wiener Publizisten Friedrich Funder, der Thronfolger Franz Ferdinand nahestand, alle chauvinistischen Postulate zu.
Während seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident, 3. November 1903 bis 18. Juni 1905, ließ Tisza die parlamentarische Opposition mit Gewalt bekämpfen. Funder gegenüber meinte Tisza: „Jeder Rumäne, der lange Hosen anhat, ist ein Landesverräter“.
1909 gewährte der ehemalige ungarische Ministerpräsident Baron Dezső Bánffy Funder ein Gespräch, in dem auch Tisza erwähnt wurde. Funder zufolge sagte Bánffy unter anderem, dieser „gescheite, eigensinnige und stolze Mann bedeute ein furchtbares Risiko für Ungarn.“ Tisza sei „gefährlich wie ein offenes Rasiermesser“. Die nötige Wahlrechtsreform etwa werde er nur zum Schein machen, weil er selbst der herrschenden Klasse angehöre. Diese Vorhersage wurde später Realität. Tisza sei damals laut Funder ein „trotziger, stoischer Kämpfer“ gewesen.
Am 5. Juni 1912 verübte ein Reichstagsabgeordneter ein Attentat auf Tisza. Am 2. Jänner 1913 duellierte sich Tisza per Säbel mit dem Reformpolitiker und späteren republikanischen Ministerpräsidenten Károlyi. Beide wurden leicht verletzt.
Am 10. Juni 1913 kehrte der 1905 abgewählte Tisza an die Spitze der ungarischen Regierung zurück, als sein Vorgänger László Lukács wegen fragwürdiger Wahlkampffinanzierung zurücktrat, nachdem ein Budapester Gericht in der diesbezüglichen Kritik des von Lukács geklagten oppositionellen Abgeordneten Zoltan Desy keine Ehrenbeleidigung sah. Tisza und Lukács hatten die Nationale Arbeitspartei gegründet und mit ihr 201 Mandate erhalten. Mit einer Geschäftsordnungsreform gelang es Tisza, die Obstruktion seiner Gegner im Reichstag zu beenden.
Am 20. August 1913 duellierte er sich mit dem oppositionellen Abgeordneten György (Georg) Pallavicini (1881–1946), der Tisza der Zeugenbeeinflussung im Ehrenbeleidigungsprozess Lukács gegen Desy beschuldigt haben soll. Es wurden ebenfalls beide Duellanten verletzt. In der Regierungsfraktion wurde dazu behauptet, die Opposition wolle nun nicht nur Maßnahmen des Ministerpräsidenten kritisieren, sondern auch seinen Charakter in Frage stellen.
Die schon von seinem Vater und anderen Vorgängern betriebene rigorose Magyarisierungspolitik, die vor allem unter der slowakischen Bevölkerung und den Ungarndeutschen Erfolge verzeichnete, ließ den Bevölkerungsanteil der Magyaren auf knapp über die Hälfte anwachsen. Zwischen 1880 und 1910 stieg der Prozentsatz der sich als Magyaren bekennenden Bürger Ungarns (ohne Kroatien) von 44,9 auf 54,6 Prozent. Mit Hilfe des reaktionären Wahlrechts, das nur den privilegierten Teil der Bevölkerung zur Wahl zuließ - 1913 waren nur 7,7 % der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt (oder durften öffentliche Ämter bekleiden) - wurde die reaktionäre Struktur des Vielvölkerstaates Ungarn zementiert.
Im Krieg bewirkte die Abneigung der Armeespitze gegen alles Serbische besonderen Argwohn gegenüber den in Kroatien lebenden Serben. Das Armeeoberkommando trat an Tisza mit der Bitte heran, der k.u.k. Armee die politische Macht in Kroatien zu übertragen, da man der Überzeugung war, die Zivilbehörden gingen nicht streng genug gegen Landesverrat vor. Tisza lehnte ab: Mehreren Rücktrittsdrohungen seinerseits ist zu verdanken, dass die Zivilverwaltung weiterhin im Amt blieb.
1916 arbeitete der rumänische Reichstagsabgeordnete Iuliu Maniu an einem Forderungsprogramm der Rumänen Siebenbürgens an die Budapester Regierung mit. Tisza intervenierte daraufhin beim k.u.k. Kriegsministerium und erreichte die sofortige Einberufung Manius in die Armee, wie Maniu im November 1918 in Wien selbst aus seinem Militärakt ersehen konnte.
Kaiser Karl I. hatte sein Amt erst vor wenigen Stunden angetreten, als Tisza ihn am 22. November 1916 in Schloss Schönbrunn besuchte. Der Ministerpräsident hatte es sehr dringend, Karl auf die Königskrönung in Budapest (und die damit verbundene Anerkennung der historischen Rechte Ungarns) festzulegen. (Franz Ferdinand hatte die Verzögerung dieser Krönung geplant, um zuvor wesentliche Reformen im Gefüge der Doppelmonarchie durchsetzen zu können.) Die Krönung fand am 30. Dezember 1916 statt.
Die rumänische Invasion Siebenbürgens im Ersten Weltkrieg, die nur durch deutsche Hilfe aufgehalten werden konnte, beschädigte Tiszas Prestige nachhaltig: „Der Zauber war gebrochen“.
Die Demission Tiszas als Ministerpräsident am 23. Mai 1917 (tatsächliches Ausscheiden am 15. Juni 1917) war nach Brook-Shepherd der Gipfelpunkt eines persönlichen Kampfes zwischen Tisza und seinem Herrscher. Karl habe in Ungarn Schritt für Schritt das allgemeine Wahlrecht einführen wollen, Tisza sei aber trotz seiner staatsmännischen Größe politisch fast ein Mann des Mittelalters gewesen und habe „Wahlrechtsradikalismus“ abgelehnt. Nur 12 % der 20 Millionen Bewohner seien wahlberechtigt gewesen. Nach Tiszas erzwungenem Abgang sei aber in Budapest ein Vakuum der Integrität und Autorität entstanden.
Auch nach dem Sturz seiner Regierung im Mai 1917 blieb Tisza als Führer der parlamentarischen Mehrheit der starke Mann Ungarns. Die Regierung Wekerle folgte auf allen wesentlichen Gebieten, insbesondere der Nationalitätenpolitik, der Linie ihres Vorgängers. Wekerles Standpunkt in der südslawischen Frage war Tiszas Standpunkt. Tisza war nicht aus moralischen oder antiimperialistischen Gründen gegen die Expansion der Doppelmonarchie. Seine Bedenken bestanden im prekären Gleichgewicht zwischen den beiden Reichshälften, das seiner Meinung nach schon genug erschüttert war. Nicht zuletzt um dieses wieder zu festigen und innere Probleme nach außen abzulenken, war der Balkankrieg (der zum Weltkrieg wurde) von Österreich-Ungarn begonnen worden.
Unter Ministerpräsident Tisza und Stephan Burián, im Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten in Wien abwechselnd k.u.k. Reichsfinanzminister und k.u.k. Außenminister, erreichte Ungarn so großen Einfluss auf die Außenpolitik Österreich-Ungarns wie nie zuvor. Der Einfluss Ungarns in Europa war dadurch so groß wie zuletzt zum Ende des Mittelalters.
Tiszas politisches Denken und seine Phraseologie wurden mehr als das aller anderen ungarischen Politiker seiner Zeit durch die dualistische Struktur der Monarchie bestimmt. Er war am 7. Juli 1914 unter anderem deswegen gegen die Auslösung des Krieges, weil er befürchtete, ein Sieg könnte zur Annexion Serbiens führen und damit das slawische Element in Österreich-Ungarn auf Kosten der Magyaren stärken. Erst als der Gemeinsame Ministerrat am 19. Juli 1914 beschloss, keine größeren serbischen Gebiete zu annektieren (die die dualistische Struktur der Monarchie gefährdet hätten), stimmte Tisza dem von ihm an sich befürworteten Krieg zu.
Nach dem Krieg notierte der ehemalige k.u.k. Generalstabschef Conrad in seinen privaten Aufzeichnungen: „Im Reiche der ehemaligen Stephanskrone erhebt sich immer mehr das Streben, Ungarn (...) als das Opfer der österreichischen Diplomatie hinzustellen, die den Krieg gegen Serbien ins Auge gefasst hatte. (...) bemüht, Graf Tisza als das fromme Lamm darzustellen, das dem Krieg widerstrebte (...). Diese Bestrebungen müssen jeden in die damaligen Vorgänge Eingeweihten geradezu verblüffen, wenn nicht komisch berühren.
Laut Tisza konnte der ungarische Nationalstaat seinen eigenen Fortbestand nur so lange sichern, als er paritätisch mitbestimmender Faktor einer starken, mächtigen, geachteten und aktionsfähigen Großmacht an der Donau bleibt. Wenn sich Tisza auf Ungarn als Nationalstaat bezog, argumentierte er allerdings fern der ethnographischen Realität. Dies musste auch bei einem ansonsten so nüchternen Staatsmann zu illusionistischen Folgerungen führen. Er hielt zwar die Einverleibung größerer Gebiete Serbiens für eine Gefahr für die innere Struktur der Monarchie, verlangte aber für den Fall einer austropolnischen Lösung (Angliederung Kongresspolens an Cisleithanien) als Kompensation für Transleithanien die Eingliederung von Bosnien und Herzegowina sowie Dalmatien mit rein slawischer Bevölkerung und später, als die Monarchie statt Polen rumänische Gebiete erhalten sollte, die Angliederung eines großen Teils der Walachei.
„In beiden Fällen ließ er das realistische Element seiner politischen Auffassung außer acht, dass nämlich der geringste Zuwachs der Nationalitäten Ungarns das innere Gleichgewicht in höchstem Maße gefährde, nur darauf bedacht, innerhalb der dualistischen Staatsstruktur einen territorialen und zahlenmäßigen Zuwachs Österreichs sogleich durch einen ähnlichen Zuwachs des Ungarischen Königreiches auszugleichen. Dies war politischer Illusionismus“.
Der österreichische Ministerpräsident Heinrich Clam-Martinic wusste 1917, dass föderalistische Pläne für die Gesamtmonarchie, insbesondere so lang Tisza an der Spitze der Budapester Regierung stand, außerhalb des Bereichs der politischen Möglichkeiten lagen.
Tisza wollte vor allem vermeiden, dass eine Expansion in den Ausbau des Dualismus zu einem Trialismus mündet, weil dadurch der Einfluss des schon bisher kleineren Partners Ungarn auf die Gesamtpolitik der Monarchie geschrumpft wäre. Gerade in der Außenpolitik hatte Ungarn durch seine geschickte Politik und seine im Vergleich zur anderen Reichshälfte größere innenpolitische Stabilität einen über seine eigentliche Macht und Bedeutung hinausgehenden Einfluss gehabt, sie in den letzten Jahren fast schon bestimmt.
Dass der ungarische Ministerpräsident, abgesehen von wenigen unbedeutenden Grenzverbesserungen, ursprünglich auch keinerlei direkte Annexionen für seine Reichshälfte erstrebte (einzigartig für eine kriegsführende Kontinentalmacht im Ersten Weltkrieg!), lag an der territorialen Saturiertheit seines Landes. Beim Ausgleich mit Österreich im Jahre 1867 waren alle Gebietsforderungen der Ungarn, begründet auf historischen Rechten und Ansprüchen, erfüllt worden. Jegliche Angliederung von nennenswert großen, notgedrungen fremdsprachigen Gebieten, hätte die prekäre magyarische Vorherrschaft in Ungarn unweigerlich gefährdet und lag daher nicht im Interesse ihrer konservativen Führung.
Noch Anfang Oktober 1918 hatte Tisza „den Mut seiner Überzeugung“  als er „in einer hemmungslosen Rede“ in Sarajewo die Bestrebungen der Südslawen, einen eigenen Staat zu gründen, verurteilte. Er nannte das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine hohle Phrase. Am 17. Oktober kritisierte er im Budapester Parlament die Tschechen mit den Worten „Die tschechische Frage ist nichts weiter als die Lust der Tschechen am Stehlen.“
Kaiser Wilhelm II. und das deutsche Auswärtige Amt beurteilten die beiden Reichshälften danach, wie es ihnen gelang, mit ihren Nationalitäten fertig zu werden, sie also mehr oder weniger effektiv zu unterdrücken. Darin waren die Ungarn offensichtlich konsequenter, was die deutsche Vorliebe für Ungarn erklärt, besonders die Hochschätzung des deutschen Kaisers für Tisza und seine kraftvolle Politik (im Gegensatz zur österreichischen Politik von Berchtold und Stürgkh).
Am 12./13. Juni 1914 kam es über diese Einschätzung zu einer Kontroverse zwischen Wilhelm II. und Franz Ferdinand, als der deutsche Kaiser den Thronfolger in dessen Schloss Konopischt in Böhmen besuchte. Als Wilhelm Tisza lobte, erwiderte der Erzherzog nach deutschen Akten scharf, Tisza sei „ein Diktator in Ungarn und möchte es auch in Wien sein“, er arbeite „für eine unabhängige ungarische Armee“. Wenn man behaupten dürfe, dass die Außenpolitik gescheitert sei, dann trage daran Tisza die Schuld, weil er die Rumänen in Ungarn schlecht behandle.
Der deutsche Botschafter in Wien, Tschirschky, berichtete im Mai 1914 nach Berlin, Franz Ferdinand wolle nach seiner Thronbesteigung Tisza sofort entlassen. Tisza soll von dieser Absicht gewusst und im Gegenzug mit einer nationalen Revolution gedroht haben. Nach dem tödlichen Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo gehörte Tisza zu den vielen, die hypothetisch als Anstifter bzw. Verschwörer kursierten. Ludwig Windischgrätz hält fest, als die Nachricht von der Ermordung Franz Ferdinands in Budapest eingetroffen sei, sei „in der Partei Tiszas nur unverhohlene Freude zu bemerken“ gewesen.
Noch mehr als die militärischen Misserfolge der Monarchie beunruhigten den Verbündeten das angebliche Zurücktreten der österreichischen Reichshälfte gegenüber der ungarischen, vor allem was die Außenpolitik betraf, und die mögliche Trennung der Reichshälften, die das Ende des Großmachtstatus der Donaumonarchie bedeutet hätte.
Aus deutscher Sicht beließ Österreichs bürokratische Verwaltung, ohne öffentliche oder parlamentarische Unterstützung, ohne Verständnis für den verbreiteten Nationalismus, die österreichischen Staatsmänner in einer verletzlichen Position. Ungarn hingegen, durch die Stärke Tiszas, mit seiner parlamentarischen Mehrheit im Rücken, erschien fast gleichwertig mit Deutschland. In der Realität hatte sich Österreich bis 1914 in seinem Reichsrat, seit 1907 mittels allgemeinem (Männer-)Wahlrecht gewählt, mit den divergierenden Interessen seiner Nationalitäten geplagt, während Ungarn ohne demokratisches Wahlrecht und ohne Gleichberechtigung der Nationalitäten „kraftvoll“ regiert werden konnte.
Andererseits berichtete Botschafter Tschirschky im September 1916 nach Berlin: Die ungarische Regierung, Graf Tisza an der Spitze, betreibe enge magyarische Politik; sie kenne trotz aller hochtönenden Phrasen keine großen Gesichtspunkte, und es fehle ihr jedes Verständnis für die gemeinsame Not und für die gemeinsamen hohen Ziele des Gesamtstaates. Auch Feldmarschall Conrad war in seinen 1921–1925 verfassten Memoiren dieser Meinung.

István Tisza war eines der wenigen Todesopfer der ungarischen Asternrevolution Ende Oktober 1918. Es wird berichtet, Tisza habe sich am 31. Oktober geweigert, durch das Fenster zu fliehen, obwohl er vor einem Anschlag gewarnt wurde. „Ich springe nirgendwo hin. Wie ich gelebt habe, so werde ich sterben“ habe er geantwortet. Gegen fünf Uhr Nachmittag entwaffneten acht revolutionäre Soldaten widerstandslos die fünf zu Tisza Bewachung abgestellten Gendarmen und betraten die Villa. Die Eindringlinge machten ihn für die Katastrophe des Krieges verantwortlich und erschossen ihn, als er aus Rücksicht auf seine anwesende Frau und Nichte den Revolver weglegte. Seine letzten Worte sollen „Es musste so kommen“ gewesen sein.