Joachim Gauck (* 24. Januar 1940 in Rostock) ist der elfte Bundespräsident
der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor war er als evangelisch-lutherischer Pastor und Kirchenfunktionär, Volkskammerabgeordneter für Bündnis 90, Bundesbeauftragter
für die Stasi-Unterlagen sowie als Publizist tätig. Am 18. März 2012 wählte
ihn die Bundesversammlung
mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten; am 23. März wurde er vereidigt.
Gauck gehört keiner Partei an.
In der DDR leitete
Gauck die Vorbereitung und Durchführung der beiden evangelischen
Kirchentage 1983 und 1988 in Rostock. Während der friedlichen
Revolution in der DDR wurde Gauck ein führendes Mitglied des Neuen Forums in Rostock. Am 18. März 1990 wurde er in
die Volkskammer der DDR und von dieser am 21. Juni 1990 zum
Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS
gewählt.
Gauck stand vom 3.
Oktober 1990 bis Oktober 2000 als Bundesbeauftragter
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik (BStU) an der Spitze der oft nach ihm
benannten „Gauck-Behörde“, die die schriftliche Hinterlassenschaft des MfS
verwaltet und zugänglich macht. Nachdem ihn Marianne Birthler abgelöst hatte, engagierte sich Gauck
gesellschaftspolitisch mit Vorträgen und Medienaktivitäten, so etwa von 2003
bis 2012 als Vorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für
Demokratie“. Er ist einer der Initiatoren der Prager Erklärung und der Erklärung
über die Verbrechen des Kommunismus. Gauck wurde mehrfach für
Verdienste und Publikationen geehrt und ausgezeichnet.
Gauck wurde 1940
in Rostock geboren. Seine ersten fünf Lebensjahre verbrachte er meist an der
Ostsee in Wustrow auf dem Fischland – zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern im
Haus seiner Großmutter väterlicherseits. Sein Vater Wilhelm Joachim Gauck, der
in Dresden geboren wurde, war Kapitän der Handelsmarine und Oberleutnant zur See der
Reserve, die Mutter Olga, geb. Warremann, gelernte Bürofachfrau. Sie arbeitete
als Bürovorsteherin in einem Anwaltsbüro. Die Eltern hatten 1938 geheiratet.
Gaucks Vater absolvierte 1940 sein Kapitänsexamen mit Auszeichnung. Er war im Zweiten Weltkrieg u. a. für das Aufspüren von Minen
zuständig und verbrachte die Kriegszeit überwiegend in Kasernen z. B. in Stralsund. Ein halbes Jahr lebte die Familie gemeinsam mit dem
Vater in Gdynia (deutsch Gdingen bzw. damals „Gotenhafen“), wo dieser
stationiert war. Bei Kriegsende unterrichtete er an der Marinekriegsschule in Flensburg-Mürwik den Offiziernachwuchs in Navigation
und Gesetzeskunde. Die Eltern waren NSDAP-Mitglieder,
die Mutter ab 1932, der Vater ab 1934. Sie hatten drei weitere Kinder:
Marianne, Sabine und Eckart († 23. August 2013).
Vom Bombenkrieg
war der bei Kriegsende fünfjährige
Gauck in Wustrow kaum betroffen. Nachdem Mecklenburg zur sowjetischen
Besatzungszone gehörte, wurde das unmittelbar an der Ostsee gelegene
Haus von Gaucks Großmutter aber von der Roten Armee zu militärischen Zwecken requiriert und musste
später zu einem sehr niedrigen Mietzins an einen Großbetrieb verpachtet werden,
der dort urlaubende Mitarbeiter unterbrachte.
Ende 1945 zog die
Mutter mit ihren damals noch drei Kindern zu den eigenen Eltern nach Rostock.
Ab 1946 besuchte
Gauck in Rostock eine Grundschule, dann die Oberschule bis
zum Abitur 1958.
Der Vater kehrte
im Sommer 1946 kurz vor Gaucks Einschulung aus britischer Kriegsgefangenschaft
zurück und arbeitete dann als Arbeitsschutzinspektor für Schifffahrt auf der
Rostocker Neptun-Werft. Bei einem
Verwandtenbesuch in Wustrow wurde er am 27. Juni 1951 von zwei Männern
aufgesucht und unter dem Vorwand, es habe auf der Werft einen schweren Unfall
gegeben, bei dem er helfen müsse, mit einem Auto abgeholt. Für die nächsten
Jahre war er für die Familie spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen bei der Volkspolizei, der
Kriminalpolizei und der Staatssicherheit
blieben ergebnislos. Eingaben an staatliche Stellen und Gesuche an Wilhelm Pieck seien erfolglos geblieben.
Erst in der
beginnenden Tauwetter-Periode nach Stalins Tod erfuhr die Familie im September 1953, dass der
Vater sich in einem sibirischen Arbeitslager befand. Es war möglich, Briefkontakt
mit ihm aufzunehmen.
Gauck und seine
beiden Geschwister seien zur totalen Ablehnung des politischen Systems der DDR
erzogen worden, dem das Verschwinden des Vaters angelastet wurde:
„Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule.
Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die
kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht,
vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so
verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in
Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein:
Wir sind die Anständigen. Intuitiv wehrte ich das Werben des Regimes für die
Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele ab, denn über uns hatte es
Leid und Unrecht gebracht.“
Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953
beschrieb Gauck in seinen autobiographischen Aufzeichnungen als „elektrisierendes
Erlebnis“. Auch auf der nahen Neptun-Werft streikten 5000 Arbeiter und forderten den
Rücktritt der Regierung. Trotz der Niederschlagung des Aufstands erinnerte sich
Gauck an eine vorübergehende Lockerung des streng „klassenkämpferischen“ Kurses im Schulalltag.
Der Vater kam im Oktober 1955 (nach über vier Jahren
Arbeitslager) extrem geschwächt aus dem Gulag zurück. Es dauerte ein ganzes
Jahr, bis er wieder als Lotse arbeiten konnte. Ihn hatte nach seinem
Verschwinden ein geheim tagendes sowjetisches Militärtribunal
in Schwerin zu zweimal 25 Jahre Freiheitsentzug verurteilt: „Die
ersten 25 Jahre wegen Spionage für einen Brief, den er von Fritz Löbau erhalten
hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten auf der Rosslauer Werft, mit dem er 1947
Schnellboote für die Sowjets erprobt hatte. Löbau hatte sich in den Westen
abgesetzt und meinen Vater zu einem Besuch nach West-Berlin eingeladen, fünfzig
Mark Reisegeld lagen dem Brief bei. Obwohl mein Vater nicht reagiert hatte,
wurde ihm die Einladung beziehungsweise diese Bekanntschaft zum Verhängnis;
Löbau soll mit dem französischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben.“ Als
Beweisstück für die Verurteilung zu weiteren 25 Jahren wegen „antisowjetischer
Hetze“ soll eine bei Gaucks Vater gefundene nautische Fachzeitschrift westlicher Herkunft
gedient haben, die aber ganz legal mit der Post bezogen worden war. Der Vater
war in ein sibirisches Arbeitslager gekommen. Bereits nach einem
Jahr habe er als „invalidisiert“ eingestuft werden müssen und musste nur noch
relativ leichte Arbeiten verrichten.
Die Rückkehr des Vaters war eine Folge der Moskauer Verhandlungen von
Bundeskanzler Konrad Adenauer; sie
änderte nichts an der ablehnenden Haltung der ganzen Familie gegenüber der SED-Regierung.
Gauck resümierte später, er sei „mit einem gut begründeten Antikommunismus aufgewachsen“.
Die bis zur
Errichtung der Berliner Mauer vorhandene Reisefreiheit benutzte Gauck zu Reisen in den „Westen“, sah
als Fünfzehnjähriger Paris, war auf Fahrradtour in Schleswig-Holstein
unterwegs und besuchte häufig West-Berlin. Nach eigenen Angaben habe er jedoch nicht
ernsthaft an ein „Rübermachen“ gedacht.
„Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine
Geliebte.“
Ein Jahr nach dem Abitur heirateten Joachim Gauck und seine Schulfreundin
Gerhild „Hansi“ Radtke. Die kirchliche Trauung vollzog 1959 sein Onkel, der Güstrower Domprediger Gerhard Schmitt.
Gaucks Berufschancen waren in der DDR
beschränkt. Sein Wunschberuf Journalist schied unter
DDR-Bedingungen für ihn von vornherein aus. Gauck entschied sich, von seinem
Onkel bestärkt, gegen eine Lehre und für ein Theologiestudium, das er von 1958 bis 1965 in Rostock
absolvierte. Dabei ging es ihm nach eigenem Bekunden anfänglich nicht um die
Qualifizierung für eine Pfarrstelle, sondern vornehmlich um philosophischen
Erkenntniszuwachs und Argumente gegen den obrigkeitlich verordneten Marxismus-Leninismus.
Dafür boten die theologischen Fakultäten in der DDR einen Freiraum.
„Mein Weg zur Theologie war in der DDR nicht
ungewöhnlich. Vor und nach mir haben sich viele aus ähnlichen Motiven für
diesen Beruf entschieden – was das starke Engagement vieler Pastoren beim
politischen Aufbau 1989 erklärt. […] Anders als die elterliche oder die
staatliche Autorität bot der Glaube die Möglichkeit, sich einer Wahrheit
anzuvertrauen, die von niemandem befohlen und von niemandem genommen werden
konnte. Er vermittelte eine geheimnisvolle Kraft, die uns befähigte, den
Minderheitenstatus durchzuhalten, mutig zu bleiben, wo andere sich schon
angepasst hatten, und Anständigkeit, Treue und Glauben für wichtiger zu halten
als Wohlstand, Karriere oder öffentlichen Erfolg.“
Nachdem die DDR im Jahr 1962 die Wehrpflicht
eingeführt hatte, entging Gauck, dessen Jahrgang ohnehin überwiegend nicht
eingezogen wurde, als immatrikulierter Student der Einberufung. Nach seiner Heirat und den Geburten seiner Söhne
1960 und 1962, aber auch aufgrund von Schwierigkeiten im Studium, geriet er in
eine Orientierungskrise. Eine Studienverlängerung wurde ihm 1964 erst nach
nervenärztlicher Begutachtung bewilligt. Auch nach Abschluss des Studiums hatte
sich Gauck noch nicht für den Pfarrberuf entschieden. Erst während seines Vikariats in Laage
stellte sich bei Gauck nach eigenen Angaben im Kontakt mit den
Gemeindemitgliedern das Zutrauen ein, dem Pastorenamt als Person und im Glauben
gewachsen zu sein.
„In der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern aber habe
ich die Angst verloren, vom Zweifel verschlungen zu werden. Ich konnte
geistlich wachsen und selbst etwas ausstrahlen. Ich lernte, dass Glaube
eigentlich ein Dennoch-Glaube ist, ein Glaube auch gegen den Augenschein; und
dass es erlaubt ist, mit dem Zweifel in den Kreis der Glaubenden einzutreten,
auch mit dem Zweifel zu leben und zu predigen. Ohne diese Erfahrung hätte ich
das Leben als Pastor wohl nicht ausgehalten, denn oft gelangte ich an die
Grenzen meiner theologischen Möglichkeiten.“
Nach seiner Ordination arbeitete er ab
1967 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs als Pastor im ländlichen und vergleichsweise
religiös geprägten Lüssow und ab 1971 in Rostock-Evershagen, wo Gauck nach eigenen Angaben erfolgreich
in der Missionsarbeit und als
Kreis- und Stadtjugendpfarrer tätig war.
Seit 1974 beobachteten Mitarbeiter des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS) die Aktivitäten Gaucks. Demnach hatte er einem Inoffiziellen Mitarbeiter
(IM) gegenüber zum Beispiel im Mai 1974 die Regierung der DDR als „Clique“
bezeichnet, „die gemeinsam mit dem MfS und der NVA das Volk unterjocht“. Über
einen Friedensgottesdienst 1982 heißt es: „G. zog in seiner Predigt zum
Thema Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Frieden Vergleiche zum Faschismus in
Deutschland und unserer sozialistischen Entwicklung in der DDR.“ Die
Stasi-Offiziere empfahlen die „Einleitung von gezielten Zersetzungsmaßnahmen“.
Über die tatsächliche Durchführung von Zersetzungsmaßnahmen gegen Gauck ist
nichts bekannt. Zu dem guten Dutzend fundamentaloppositioneller Gruppen, die
sich seit Mitte der 1980er Jahre in Mecklenburg und Vorpommern zusammenfanden, hatte er keinen Kontakt.
Zwischen 1982 und
1990 war Gauck Leiter der Kirchentagsarbeit
in Mecklenburg. Der Kirchentag 1988 (Motto: „Brücken bauen“) stand bereits
unter dem Eindruck der Reformen des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow.
Man wollte nach Gaucks Angaben die SED mit der Forderung zu einem Dialog ohne
Beschränkung zwingen, die Parteispitze sollte sich zu den in Kirchenkreisen
intensiv diskutierten Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsthemen äußern. Ein
Höhepunkt auf diesem Kirchentag war nach hürdenreicher Einladung eine Ansprache
des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt von der
Kanzel der Rostocker Marienkirche.
Stasi-Hauptmann
Terpe suchte nach dem Kirchentag Gauck zu einem längeren Gespräch auf, worüber
der sich angeblich „angenehm überrascht“ zeigte. Terpe notierte anschließend,
dieses Gespräch werde Gauck dazu veranlassen, „seine Haltung zum MfS zu
überdenken“, konstatierte aber auch, dass Gauck „zu einem ständigen
regelmäßigen Kontakt nicht bereit ist, da es seiner Grundauffassung
widerspreche und es zu viele Dinge gibt, die zwischen uns stehen“. Im November
1988 beschloss die Stasi die Einstellung des gegen Gauck gerichteten Operativen Vorgangs Larve:
„Im Rahmen der Vorgangsbearbeitung wurde ein maßgeblicher Beitrag zur
Disziplinierung von Larve erreicht. Aufgrund des Bearbeitungsstandes kann
eingeschätzt werden, dass von ihm derzeit keine Aktivitäten ausgehen werden,
die eine weitere Bearbeitung im OV erforderlich machen.“
Gaucks eigene
Aussagen zu seinem damaligen Verhältnis zu den staatlichen Organen der DDR und
speziell zum MfS wurden im Jahr 2000 von Peter-Michael Diestel, dem
letzten DDR-Innenminister im Kabinett de Maizière, in Frage gestellt. Diestel
brachte in die Debatte eidesstattliche Erklärungen ehemaliger MfS- und
SED-Funktionäre ein, wonach Gauck ein Begünstigter des DDR-Regimes gewesen sei.
In der Folge kam es zu juristischen Auseinandersetzungen; diese wurden mit
einer gütlichen Einigung vor dem Oberlandesgericht Rostock
beendet. Nach dem Wortlaut des Urteils war allerdings juristisch gesehen
Diestel der Gewinner. Über Gauck darf rechtskräftig behauptet werden, er sei
"Begünstigter der Stasi" entsprechend der Verhandlung vom 22.
September 2000 vor dem Landgericht Rostock (AZ 3 O 245/00). Vgl. "Der
Verfügungskläger (Gauck) hat gegen den Verfügungsbeklagten (Diestel) auch
keinen Anspruch auf Unterlassung der Äußerung, er sei 'Begünstigter' i.S.d.
Stasi-Unterlagengesetzes."
Dagegen bestritt
der DDR-Bürgerrechtler und der Freitag-Mitherausgeber Wolfgang Ullmann (1929–2004) jegliche Form der Zusammenarbeit
Gaucks mit der Stasi; er schrieb: „Gauck hat sich an die in der Landeskirche
Mecklenburg geltende Regelung gehalten, Gespräche mit dem MfS der
Kirchenleitung mitzuteilen und damit jede Konspiration zu unterbinden. Wenn
Diestel das bestreiten will, trägt er dafür die Beweislast, nicht etwa Gauck.“
Auch die Bestimmungen des Stasiunterlagengesetzes über Begünstigte des MfS
träfen auf Gauck nicht zu.
Laut Akten des
Staatssicherheitsdienstes soll Gauck gesagt haben, dass er für Rostock keinen
oppositionellen „Kirchentag von unten“ wolle, wie er 1987 von ca. 600
Teilnehmern am Rande des offiziellen Kirchentages der Evangelischen Kirche
Berlin-Brandenburg veranstaltet wurde: „Der gesamte Kirchentag ist ein
Kirchentag von unten, aber Missbrauchshandlungen läßt er nicht zu … Rostock ist
nicht Berlin – Gäste haben sich zu fügen und einzuordnen.“ Der teilnehmende
oppositionelle Theologe Heiko Lietz sagte, er sei
während des Kirchentages in seinen Entfaltungsmöglichkeiten „massiv
eingeschränkt“ worden. Laut einem Zwischenbericht des MfS vom 26. August 1987
sei Gauck „an keinen Themen interessiert […], die sich offen gegen die
staatlichen Verhältnisse in der DDR richten. Aus diesem Grund hat er den Lietz,
Heiko … anfangs nicht mit in den Vorbereitungskurs für den Kirchentag 1988
einbezogen. Erst auf Drängen von Lietz wurde dieser nachträglich in eine
Themengruppe integriert und als Themenleiter eingesetzt.“ Lietz erklärte, er
sei als Vorsitzender der landeskirchlichen Arbeitsgruppe für konziliare
Prozesse nicht in den Vorbereitungskurs eingeladen und wenige Tage vor
Kirchentagsbeginn als Vorsitzender abberufen worden.[
Als der
Bürgerprotest gegen die DDR-Obrigkeit in der zweiten Oktoberhälfte 1989 auch im
Norden des Landes zur Massenbewegung wurde, hielt Gauck am 19. Oktober in
Rostock eine Predigt zum Propheten Amos, in der er „tötende Selbstgerechtigkeit“ der „rettenden
Gerechtigkeit“ gegenüberstellte. Im Ergebnis plädierte er auch für ein Bleiben
in der DDR: „Die, die uns verlassen, hoffen nicht mehr.“ Gauck sah in der
Revolution von 1989 ein ihn prägendes Erlebnis und bezeichnete die Losung „Wir sind das Volk!“ als Übersetzung der in der Französischen Revolution
angelegten Ideale von Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit in den Protest gegen das SED-Regime.
Die Parole habe Bürgersinn geweckt. Sie habe bewusst gemacht, dass Menschen
nicht die Verfügungsmasse einer scheinbar ewig sicheren Macht seien, „sondern
dass wir es sind, die das Sagen haben“. Man habe sich gefragt: „Bin ich das?
Sind wir das? Sind wir tatsächlich so mutig, wir landläufigen Feiglinge?“
Der
DDR-Oppositionelle Hans-Jochen Tschiche
kritisierte die Betitelung als „Bürgerrechtler“ in den Medien und sagte in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung,
dass Gauck nicht zu den Gründervätern gehöre und in der Opposition nicht
aufgefallen sei: „Er sprang erst später auf den fahrenden Zug auf. Wenn ich
heute die veröffentlichte Meinung wahrnehme, wird er immer als Lokomotivführer
der Oppositionsbewegung
beschrieben. Heiko Lietz, ebenso Mitbegründer des Neuen Forums, sagte, er sei
zur Kunstfigur aufgebaut worden, wofür man ihn nicht verantwortlich machen
könne. Gauck „lehnte diesen Staat ab. Er war verlässlich“, aber als sich
landesweit die Opposition vernetzte, illegal, mit Risiken, da sei Gauck nie
dabei gewesen. Er führte weiter aus: „Er war in der Friedensbewegung nicht
verwurzelt, es war wohl nicht sein Thema.“ Auch sei Gauck nicht unter den
Aktivisten, die das Neue Forum gründeten, vorne dabei gewesen. Er sei dort spät
aufgetaucht und habe sich nach Berlin wählen lassen, „als der Zug schon längst
abgefahren und das Tor weit auf war“. Die ehemalige Dissidentin Vera Lengsfeld erwiderte dagegen, dass auf alle, die im Herbst
1989 Widerstand gegen das SED-Regime leisteten, der Begriff „Bürgerrechtler“
angewandt worden sei, und widersprach insbesondere Tschiche deutlich. Insofern
trage „Gauck ihn mit Recht“. Die Times beschrieb ihn als ehemaligen Dissidenten: „a former east German dissident priest, regarded
by many as a moral authority.“
Gauck trat bei der
Volkskammerwahl am 18.
März 1990 im Bezirk Rostock für die Listenverbindung Bündnis 90 an, zu der das Neue Forum (NF) gehörte, und wurde
knapp gewählt. Als Abgeordneter beschäftigte er sich vorrangig mit der Rolle
der Stasi in der DDR. Innerhalb des NF setzte sich der seit Oktober 1989 vom
täglichen Kirchendienst freigestellte Gauck für eine staatliche Einheit
Deutschlands ein. Am 31. Mai 1990 begründete Gauck in der Volkskammer den
Antrag „zur Einsetzung des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des
MfS/AfNS“. Vertreter der Bürgerkomitees wurden mit beratender Stimme in die
Ausschussarbeit einbezogen. In der konstituierenden Sitzung des
Sonderausschusses wurde Gauck am 21. Juni 1990 zum Vorsitzenden gewählt.
Eines der
zentralen Probleme in der Zuständigkeit des Ausschusses war nach Gaucks
Darstellung die personelle Zusammensetzung des seit Februar 1990 bestehenden
staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS. Er habe sich bemüht,
ehemaligen MfS-Angehörigen als Kennern der Materie vertrauenswürdige Vertreter
aus den Bürgerkomitees an die Seite zu stellenund sich gegen westdeutsche
Forderungen nach Überführung des Stasi-Aktenmaterials ins Koblenzer Bundesarchiv
gestellt, auch die erwogene Vernichtung dieser Unterlagen unterband er. Gauck
sah die Akten als wichtiges Gut für die künftige Gestaltung der Demokratie wie auch als unverzichtbare Grundlage für den
Rechtsanspruch der geschädigten Bürger auf Rehabilitation und die
Nachweismöglichkeit von erlittenem Unrecht. Er wurde so zu einem der
Initiatoren des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der
personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes
für Nationale Sicherheit, das am 24. August 1990 von der Volkskammer
beschlossen wurde.
Am 28. September
wurde Gauck in der letzten Arbeitssitzung der Volkskammer zum Sonderbeauftragten
für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes
der DDR gewählt und am 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts
der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker und
Bundeskanzler Helmut Kohl als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für
die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes
in dieser Funktion bestätigt.
Sein Mandat als
einer der 144 Abgeordneten, die die Volkskammer gemäß Art. 42 des Einigungsvertrages zur Entsendung in den 11. Deutschen
Bundestag gewählt hatte, legte Gauck daraufhin am 4. Oktober 1990 nieder.
Aus dem Dienst als Pastor in der mecklenburgischen Landeskirche wurde er im
November 1990 auf seinen eigenen Antrag hin entlassen. Als Sonderbeauftragter
residierte Gauck zunächst mit nur drei Mitarbeitern im frei gewordenen Komplex
des SED-Zentralkomitees
in der Behrenstraße, bevor die
Behörde in einen vor 1989 vom Innenministerium der DDR genutzten Gebäudekomplex
in der Glinkastraße umzog.
Bei der Übernahme
der Stasi-Angestellten, auf die sich bereits das staatliche
Auflösungskomitee gestützt hatte, verfolgte man laut Gauck einen
pragmatischen Kurs: „Auf einige konnte man aufgrund ihrer Spezialkenntnisse
nicht verzichten, andere hatten sich in der Übergangszeit nicht arrogant und
gehässig, sondern kooperativ und freundlich gegen die Bürgerrechtler verhalten. Ich bat also meine
Vertrauenspersonen in Berlin und in den Bezirken, mir die Namen derjenigen zu
nennen, die für eine Übernahme in Frage kämen, und zwar Archivfachleute und
Techniker. Diese Bitte sollte später wiederholt Gegenstand heftiger Polemiken
werden.“
Seine
Hauptzuständigkeit sah Gauck als Nicht-Jurist in einer politischen
Richtlinienkompetenz, nicht aber im konkreten Behördenaufbau. Zu seinem
Stellvertreter machte Gauck den vormaligen Referatsleiter beim bayerischen Landesbeauftragten
für den Datenschutz und späteren Verfassungsschutz-
und BND-Präsidenten Hansjörg Geiger. Anfang
1991 begann die ausländische Presse, Gauck wahrzunehmen. Die New York Times widmete ihm am 20. Januar einen ersten
Artikel:
„Herr Gauck ist der offizielle Wächter über Millionen von
Akten, die über die letzten vierzig Jahre von Agenten der inzwischen
aufgelösten Ostdeutschen Geheimpolizei, der Stasi, gesammelt worden waren. Sein
ruhiges Beharren, dass die Deutschen sich der Wahrheit über die Stasi stellen
müssen, machte ihn für manche zum Helden, speziell für die Opfer der
kommunistischen Führer, die Ostdeutschland bis zum letzten Jahr regierten.
Andere jedoch, darunter auch einige prominente Politiker in Bonn, wünschen ihm
nichts Gutes.“
– New York
Times: „Germany’s New Custodian of Stasi Secrets Insists on Justice“ von
Stephen Kinzer, 20. Januar 1991. Übersetzt
aus dem Englischen.
Mit Inkrafttreten
des Stasi-Unterlagengesetzes
am 2. Januar 1992 wechselte die Bezeichnung dieses Amtes noch einmal: Gauck war
jetzt Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR. Am gleichen Tag wurde interessierten Betroffenen auf
Antrag erstmals Akteneinsicht durch die
Gauck-Behörde gewährt. In den ersten hundert Tagen wurden nach seinen Angaben
420.000 Anträge auf private Akteneinsicht und 130.000 Anträge auf Überprüfung
von Personen im öffentlichen Dienst gestellt.
In seiner Amtszeit
kam es zu einem Rechtsstreit zwischen der von Gauck geführten Behörde und dem
Ministerpräsidenten von Brandenburg, Manfred Stolpe. Das Verwaltungsgericht Berlin
entschied am 3. Juni 1993, dass Gauck nicht länger behaupten darf, Stolpe sei
ein wichtiger inoffizieller Mitarbeiter
der Staatssicherheit gewesen. Die Forderung Stolpes, Gauck alle bisher
wertenden Äußerungen zu verbieten, lehnte das Gericht ab.
Erfolglos wandte
sich Gauck dagegen, die am 31. Dezember 1997 auslaufende Verjährungsfrist für
mittelschwere Straftaten aus DDR-Zeiten zu verlängern. Die bisherige
Verlängerung hatte aus seiner Sicht keinen hinreichenden Erfolg gehabt. Ein
Jahr später sprach er sich aber auch dagegen aus, die Aufarbeitung der
DDR-Vergangenheit zu beenden, da noch immer eine große Zahl von Anträgen auf Akteneinsicht
in seiner Behörde unbearbeitet geblieben waren.
Gaucks erste
Amtszeit dauerte bis 1995. Am 21. September wurde er vom Deutschen Bundestag
mit großer Mehrheit für weitere fünf Jahre als Bundesbeauftragter
bestätigt. Da für diese Funktion per Gesetz nur zwei Amtszeiten vorgesehen
sind, räumte Gauck seinen Platz als Behördenchef am 10. Oktober 2000 für seine
Nachfolgerin Marianne Birthler. Die Kurzform „Gauck-Behörde“, hernach auch
„Birthler-Behörde“, bürgerte sich aufgrund des sperrigen offiziellen Titels
ein.
Kritisiert wurde
Gauck für die Beschäftigung von Stasi-Mitarbeitern in seiner Behörde. Damit
setzt sich ein vertrauliches „Gutachten über die Beschäftigung ehemaliger
MfS-Angehöriger bei der BStU“ auseinander, das von Hans H. Klein und Klaus Schroeder 2007 im Auftrag des Kulturstaatsministers Bernd Neumann erstellt und durch WikiLeaks publiziert wurde. Für 1991 rechneten sie mit
mindestens 79 ehemaligen Stasimitarbeitern, darunter fünf ehemaligen
sogenannten Inoffiziellen Mitarbeitern: „Nahezu alle ehemaligen
MfS-Bediensteten hatten in den ersten Jahren des Aufbaus der Behörde die
Möglichkeit des Missbrauchs. Sie konnten Akten vernichten, verstellen oder
herausschmuggeln, denn sie hatten als Wachschützer, als Archivare, als
Magazinmitarbeiter oder als Rechercheure zum Teil ungehinderten und
unbeaufsichtigten Zugang zu erschlossenem, aber auch zu unerschlossenem
Material.“ Aussagen Gaucks und des damaligen Direktors Busse gegenüber der
Bundesregierung, „beim Bundesbeauftragten wurden am 1. Januar 1997 noch 15
ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS als Angestellte bzw. als Arbeiter
beschäftigt“, wiesen die Gutachter Klein und Schroeder als „falsch“ zurück, da
zu dieser Zeit mindestens 46 solche Personen beschäftigt gewesen seien,
darunter ehemalige Wach- und Personenschützer des MfS, drei frühere Mitglieder
des MfS-Wachregiments sowie weitere 16 ehemalige Hauptamtliche, die unerwähnt
blieben. Die Behördenleitung wies den Vorwurf mit Blick auf die damalige Praxis
anderer Behörden zurück. Roland Jahn, der zweite
Nachfolger Gaucks als Behördenchef, betrieb die Trennung von solchen
Mitarbeitern und nannte die Beschäftigung ehemaliger Stasi-Angehöriger einen
„Schlag ins Gesicht der Opfer“.
Im Wintersemester
1999/2000 gab Gauck im Rahmen einer Gastprofessur Vorlesungen zum Thema „1989 – Vom Untertan zum
Bürger“ an der Medizinischen Universität zu Lübeck.
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